Physiologische Funktionen
Physiologische Funktionen des Gehirns sind in verschiedenen Arealen und Strukturen lokalisiert und miteinander vernetzt. Je nach benötigter Funktion werden diese Strukturen aktiviert bzw. deaktiviert. In diesem Kapitel werden einige physiologische Funktionen des Gehirns wie Somatosensorik, Sensomotorik und Sprache beschrieben.
Inhalt
Die Vernetzung des Gehirns beschreibt die Gehirnstrukturen und nach welchen Prinzipien es organisiert ist, nicht aber wie physiologische Prozesse wie Fühlen, Tasten, Schmecken tatsächlich ablaufen. Verschiedene Funktionen des Gehirns sind in verschiedenen Arealen und Strukturen lokalisiert und miteinander vernetzt. Je nach benötigter Funktion werden diese Strukturen aktiviert bzw. deaktiviert. So ist beispielsweise der Frontallappen für Persönlichkeit und Sozialverhalten und der Temporallappen für Sprache und Gedächtnis zuständig. Im Folgenden werden einige physiologische Funktionen des Gehirns vorgestellt.
Somatosensorik
Der somatosensorischen Cortex liegt im Großhirn und dient der haptischen Empfindung, also dem Fühlen und dem Spüren des eigenen Körpers und der Umwelt. Das somatosensorische System umfasst verschiedene Wahrnehmungssysteme wie das Schmerzempfinden, den Tastsinn oder dem Temperatursinn. Diese Informationen ermöglichen uns das Erleben, das Fühlen oder das Spüren von uns selbst und der Umwelt.
Die für verschiedene Stellen des Körpers zuständigen Sinneszellen in der Hirnrinde sind nebeneinander angeordnet. Auf die Oberfläche projiziert ähneln sie einem kleinen Menschen, dessen Proportionen der Körperteile jedoch stark verzerrt sind (Homunkulus). Interessant ist zum einen die räumliche Anordnung, aber auch die Größe der verschiedenen Bereiche. Die Beine und Arme sind im oberen Bereich angeordnet, das Gesicht im mittleren Bereich und die Lippen, die Zunge und die Gesichtsmuskeln im unteren Bereich. Besonders auffällig ist die Größe der Hände, des Kopfes und der Lippen, die besonders viele Sinneszellen aufweisen, also besonders sensibel sind, und damit auch besonders wichtig für das Fühlen und Erleben sind.
Sensomotorik
Viele Prozesse im Gehirn, vor allem die sensomotorischen Prozesse, laufen in einem Muster aus Wahrnehmung und Reaktion ab. Die Sensomotorik beschreibt das Zusammenspiel einer Wahrnehmung und einer darauf folgenden motorischen Reaktion. Umweltreize werden über Rezeptoren an das Nervensystem und damit an das Gehirn weitergeleitet. Dort wird die Information verarbeitet, gleichzeitig aber auch nach Bedeutung bewertet und entsprechende Reaktionsmuster programmiert. Je nach Bewertung kann die Reaktion auf den gleichen Reiz sehr unterschiedlich ausfallen. Die motorische Reaktion wird dann vom motorischen Kortex über die Pyramidenbahn und das Rückenmark an die entsprechenden Muskeln weitergeleitet. Viele dieser Prozesse laufen gleichzeitig und automatisiert ab, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen. Sie spielen auch bei vielen Alltagshandlungen wie dem Laufen oder dem Greifen, aber natürlich auch beim Sport eine zentrale Rolle. Wegen der Komplexität dieser Reaktionsmuster spricht man hier von motorischem Verhalten. Für die Entwicklung des sensomotorischen Systems gibt es bestimmte Zeitfenster, in denen die spezifischen Kompetenzen besonders gut gelernt werden können. Diese Tatsache hat für die Entwicklung von Kindern damit eine entscheidende Bedeutung. Verpasst man diese Zeitfenster, ist es relativ schwierig und aufwändig dies zu einem späteren Zeitpunkt noch nachzuholen.
Sprache
Die sprachverstehenden und spracherzeugenden Areale liegen in und unterhalb der Großhirnrinde. Zwei Zentren wurden bereits im 19. Jahrhundert als “Sprechzentren” identifiziert: das Wernicke-Areal im linken Temporallappen, als Zentrum des Sprachverstehens und das Broca-Areal als Zentrum der Sprachproduktion. Heute weiß man, dass beide Zentren wesentlich multifunktionaler arbeiten und dass auch die rechte Gehirnhälfte an sprachlichen Prozessen beteiligt ist. Die trifft zu, wenn es etwa um die funktionalen Merkmale der Sprache wie Intonation und Akzent geht. Aktuell gibt es sogar Hinweise darauf, dass bei der Erkennung von Satzstrukturen auch der Thalamus involviert ist.
Die Verarbeitung sprachlicher Impulse beginnt im Innenohr. Die Schnecke, das Cochlea-Organ, hat ähnlich der Netzhaut im Auge die Funktion, Laute vorzuselektieren. Damit werden hohe Frequenzen anderen Gehirnarealen zugeteilt als tiefe. So wird es auch möglich, menschliche Sprache von anderen Lauten zu unterschieden.
Bei der weiteren Sprachverarbeitung wirkt das Prinzip Form-vor-Inhalt: in den ersten 200 Millisekunden wird die grammatische Struktur (nominale, verbale Gruppierungen, Präpositionen usw.) analysiert und erst 400 Millisekunden später die Semantik. Die Zusammenführung und das Verstehen des sprachlichen Inputs benötigt eine Phase also 600 Millisekunden. Kinder im Spracherwerbsprozess benötigen für die Analyse der grammatikalischen Strukturen fast doppelt so lange wie Erwachsene. Sie erkennen grammatische Merkmale auf der Satzebene (Nominalgruppen, Verbalgruppen, Verbklammern usw.) jedoch bereits vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Auch rhythmische und lautliche Elemente der Sprache können die Kinder kommunikativ einsetzen, bevor sie die ersten Wörter produzieren. In allen Entwicklungsprozessen gibt es Zeitfenster, die besonders günstig für spezielle Entwicklungsschritte sind.
Während sich Artikulationsschwierigkeiten und Wortschatzschwächen im Laufe der Entwicklung oder durch entsprechende Übungsangebote “auswachsen”, benötigen Kinder mit grammatikalischen und prosodischen Defiziten unbedingt professionelle Hilfe.
Was bedeutet dies für meine Unterrichtspraxis?
Haben Kinder sensomotorische oder sprachliche Defizite, ist es wichtig diese möglichst frühzeitig zu erkennen und zu fördern. Es wird zunehmend schwieriger und aufwändiger dies zu einem späteren Zeitpunkt noch nachzuholen.
Reflexionsfrage
Können Leistungsunterschiede zwischen Kindern auch auf unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten beruhen?
Quiz
1) Im Homunuculus in der Hirnrinde sind die Sinneszellen für die verschiedenen Körperareale
A) stark verzerrt angeordnet
B) gleichmäßig angeordnet
C) 100 Billionen
2) Das Erlernen von sensomotorische Fertigkeiten unterliegt
A) keinem speziellen Zeitmuster
B) relativ fixen Zeitfenstern