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Rhythmus und Rhythmizität

Zusammenfassung

Wie unzählige Vorgänge in der Natur ist auch der Mensch in seinen biologischen Funktionen und seinem Verhalten weitgehend durch Rhythmen gesteuert. Die Rhythmizität beeinflusst unsere Wahrnehmung und auch unser Lernen. Besonders im Bereich der Sprache haben der Rhythmus und dynamische Elemente Auswirkungen auf ihre Funktionalität, den Spracherwerb und auch das Schriftsystem.

Glossar

Rhythmizität → Aus neurophysiologischer Perspektive wer­den alle lebenswichtigen biologischen Prozesse im Menschen (das sind: Herz-Kreis- lauf-System, /Atmung, Stoffwechsel, innere Sekretion und Psychomotorik) in Form rhythmischer Muster gesteuert. Externe Rhythmen (Sprache, Musik) haben Einfluss auf Verarbeitungspro­zesse im Gehirn und deren Einfluss auf Organfunktionen und zentralnervöse Funktio­nen.

Akzent → Unter Akzent versteht man die durch Lautstärke, Länge und Tonhöhe stärker hervortretende Silbe im Vergleich zu weniger stark wahrnehmbaren umgebenden Silben.

Prominenz → Hervorhebung (Akzent) eines bestimmten Wortes der sprachlichen Äußerung mit gleichzeitiger Abschwächung der Betonung der anderen.

Schriftkodierung → Phonologische, morphologische und syntaktische Merkmale der gesprochenen Sprache sind in der Schrift kodiert.

Funktionalität der Sprache → Die Funktionalität der Sprache bezieht sich auf den zwischenmenschlichen Austausch, vor allem Kommunikation, Verständnis, Ausdruck und Handeln

isochron → gleich lang dauernd

Suprasegmentale Merkmale → Die suprasegmentalen phonetischen Eigenschaften umfassen Merkmale wie Melodie oder Tonhöhe (im engeren Sinne als Intonation bezeichnet), Lautstärke, Länge, Sprechtempo, Sprechspannung und Pausen.

Versmaß → Das Versmaß beschreibt den klanglichen Aufbau eines Gedichts. Entscheidend ist die Abfolge von betonten und unbetonten Silben.

Inhalt

Rhythmizität

Funktionen im menschlichen Körper verlaufen in zeitlichen Mustern. Diese wiederkehrenden Rhythmen nennen wir Rhythmizität. Sie betreffen beispielsweise die Aktivität des Gehirns oder der Nerven und bewegen sich im Bereich von Millisekunden. Die Verdauung hat einen Rhythmus, der sich im Bereich von Stunden bewegt, der Schlafrhythmus bewegt sich im Bereich von Tagen. So haben biologische Prozesse ganz bestimmte Muster in ihrem zeitlichen Ablauf sowie teilweise in ihrer zeitlichen Abhängigkeit wie zum Beispiel der Tag-Nacht-Rhythmus.

Auch bei der Motorik spielt der Rhythmus eine große Rolle. Gekonnte und automatisierte Bewegungen werden mit einem extrem wiederholgenauen und rhythmischen Zeitmuster ausgeführt. Durch eine jeweils gleichmäßige zeitliche Aktivierung von Agonist und Antagonist (sich gegenüberliegenden Muskelpaaren wie Beuger und Strecker) innerhalb einer Bewegungsstrecke können Bewegungen gleichmäßig und effizient ausgeführt werden. Durch einen guten Bewegungsrhythmus können auch bei komplizierten Bewegungen alle beteiligten Muskeln (z.B. beim Greifen ca. 25 Muskeln) wie bei einem Konzert im gleichen Takt spielen. Darüber hinaus werden automatisierte Bewegungen unabhängig vom Bewegungsumfang bevorzugt isochron ausgeführt, also mit einem gleichbleibenden Zeitmuster. Die Schreibfrequenz ist beispielsweise in bestimmten Bereichen auch für unterschiedliche Schriftgrößen immer gleich.

Es gibt auch Hinweise, dass bei der Sprachwahrnehmung diese rhythmischen Aktivitätsmuster im Gehirn eine Rolle spielen. Es könnte sein, dass die Informationen aus der Sprache effizienter und schneller verarbeitet werden können, weil durch wiederkehrende rhythmische Muster in der Sprache eine gewisse Vorhersagbarkeit besteht.

Unter Sprachrhythmus versteht man die zeitliche Gliederung der gesprochenen Sprache. Der Rhythmus gehört zusammen mit dem Akzent, der Betonung, dem Sprechtempo, den Pausen und anderen zu den so genannten suprasegmentalen Merkmalen der gesprochenen Sprache. Diese Merkmale sind an die Silbe und nicht an Einzellaute gebunden. Wir betonen einzelne Silben stärker als andere. Daraus entstehen ganz spezielle, sprachspezifische rhythmische Ordnungen. Wir kennen diese Muster aus der Poesie, wo bestimmte Versmaße den Rhythmus bestimmen.

Auf der Wortebene ist es im Deutschen das Muster des Trochäus, in dem die erste Silbe eines Wortes betont wird und die zweite unbetont. Im Französischen dagegen ist es die Form des Jambus – vorne unbetont, hinten betont.

Der Mensch nimmt in der Sprache zuerst die prosodischen Markierungen wie Akzent, Pausen oder eben den Rhythmus wahr. Schon bei Neugeborenen basieren Wortverarbeitungsprozesse auf dem speziellen Rhythmus der Muttersprache/n. Durch die rhythmische Hirnaktivität wird die Wahrnehmung silbischer Muster in der Sprache und deren Verarbeitung positiv beeinflusst. Möglicherweise wird aufgrund der Rhythmizität der Gehirnaktivität sogar der Wortschatz nach rhythmischen Merkmalen kategorisiert und abgerufen.

Sprachrhythmus

Die Sprachen der Welt werden in verschiedenen Kategorisierungsklassen zugeordnet. Eine dieser Klassen definiert den Rhythmus der Sprache als vorherrschendes Merkmal. Der Rhythmus hat Einfluss bis in die tiefsten Strukturen der Sprachentwicklung, der Sprachproduktion, der Sprachwahrnehmung und ihrer kognitiven Verarbeitung.

Sprachen können nach ihren rhythmischen Merkmalen in Kategorien eingeordnet werden. Im europäischen raum sind die silbenzählenden und die akzentzählenden vorherrschend. In silbenzählenden Sprachen wie dem Italienischen, Rumänischen oder Türkischen sind die Abstände von einer betonten Silbe zur nächsten betonten Silbe (idealerweise) gleich lang. In diesen Sprachen verarbeitet das Gehirn die sprachlichen Informationen primär auf Silbenebene. Dabei werden zuerst die Silbengrenzen wahrgenommen, bevor die Grammatik oder die Wörter bzw. deren Bedeutung bearbeitet werden.

In akzentzählenden Sprachen wie Englisch, Deutsch, Russisch können auf eine betonte Silbe mehrere unbetonte Silben folgen. Die Hervorhebung einer Silbe einem einzelnen Wort, in Wortgruppen oder auch in einem Satz nennt man Akzent. Obwohl jedes einzelne Wort einen Akzent hat, wird bei einer schnellen Aussprache immer nur jenes Wort betont gesprochen, das vom Sprecher als das informationsstärkste hervorgehoben wird. Diese Betonung bestimmt Atmung und Sprachproduktion auf der Sprecherseite und die Wahrnehmung und die kognitive Verarbeitung von Informationen auf Hörerseite.

Intonation/Prosodie

Prosodie ist der Sammelbegriff für jene dynamischen Merkmale in der menschlichen Sprache, die für den charakteristischen Klang der Sprache sorgen. Vor allem aber sind sie für die Verständigung zwischen Sprecher und Hörer zuständig.

Die prosodischen Markierungen spiegeln Absicht und Emotion einer Aussage. Sie zeigen auch im Dialekt, woher ein Sprecher kommt. Sie sind das Gerüst für die Sprachkompetenz eines Muttersprachlers. Sie bilden die zugrundeliegenden Strukturen der Sprache und steuern den Spracherwerb. Sie sind für das Funktionieren von Kommunikation verantwortlich. Man könnte sagen, die Prosodie ist ein Teil des Menschen, sie ist uns ganz nahe und selbstverständlich. Wir kennen unsere Sprache nicht ohne sie, denn wir lernen die Prosodie bereits lange vor den ersten Worten. Wir denken auch nicht über die Prosodie und ihre Bedeutung nach. Es ist nicht notwendig, sie zu benennen. Sie dienen als Markierungen, so genannte “road signs” und helfen dem Hörer, den Absichten des Sprechers zu folgen. Diese Signale kommunizieren Empathie und zeigen die Beziehung zwischen bedeutenden und unbedeutenden Einheiten in der Aussage. Der kompetente Hörer kann damit diese Zusammenhänge einwandfrei identifizieren und die Absichten des Sprechers verstehen. Im Allgemeinen nehmen wir die prosodischen Merkmale in der Kommunikation nicht einmal wahr, es sei denn, sie fehlen.

Einem prosodisch schlechten Sprecher zuzuhören verlangt Konzentration und Disziplin und ist anstrengend. Prosodische Fehler sorgen beim Hörer für Irritation, weil sie unerwartet sind und von der eigenen Erwartungshaltung abweichen. Wenn diese nicht erfüllt wird und eine Aussage einen völlig anderen Ton hat, sorgt das entweder für Verstörung oder Wohlwollen beim Gesprächspartner.

Beim Lernen einer fremden Sprache ist das prosodische Muster der Muttersprache so stark, dass dieses auf die Aussprache der gelernten Sprache abfärbt. Für den muttersprachlichen Zuhörer sind diese systematischen Abweichungen von den wichtigsten klanglichen Merkmalen Zeichen des fremden Akzents.

Letztlich ist der Sprachrhythmus auch Teil der Schriftkodierung, die uns durch bestimmte Buchstabenkombinationen betonte und unbetonte Wortteile anzeigt.

Was bedeutet dies für meine Unterrichtspraxis?

Der Sprachrhythmus ist ein besonders starkes Merkmal der gesprochenen Sprache und wesentlich für die Sprachverarbeitung. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den prosodischen Merkmalen ist Voraussetzung dafür, dass diese auch richtig wahrgenommen werden.

Reflexionsfrage

Der Rhythmus ist besonders für die sprachliche Wahrnehmung und Funktionalität bedeutend. Welche Konsequenz hat das Erlernen der Sprache und Schrift?

Quiz

1) Ihrem Rhythmus nach ist Rumänisch eine

A) silbenzählende Sprache
B) akzentzählende Sprache

2) Das Grundgerüst für das Erlernen einer Muttersprache ist

A) das Wort
B) der Rhythmus
C) die Grammatik

Lösungen

1️⃣ → A) silbenzählende Sprache
2️⃣ → B) der Rhythmus

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