Automatisierte und bewusst kontrollierte Prozesse
Für die Ausführung von Willkürbewegungen stehen dem Menschen zwei prinzipiell verschiedene Mechanismen zur Verfügung: Feedback Bewegungen sind durch maximale Kontrolle gekennzeichnet und werden normalerweise bei ungelernten Bewegungen verwendet. Automatisierte feed-forward Bewegungen sind hingegen durch maximale Effizienz gekennzeichnet und werden bei gelernten Bewegungen verwendet.
Inhalt
Prinzipiell arbeitet das Gehirn auf zwei verschiedenen Ebenen: Bewusstsein und Unterbewusstsein. Auch wenn wir das Gefühl haben, dass unser Bewusstsein unser eigentliches Sein steuert, ist die Verarbeitungskapazität des Unterbewussten um ein vielfaches höher. Viele der unbewusst wahrgenommenen Informationen und Reize können gar nicht in unser Bewusstsein vordringen, weil diese Informationen über den Thalamus gefiltert werden. Pro Sekunde (!) strömen etwa 10 Millionen Bits an Information in unser Gehirn, und das Bewusstsein wäre mit der Verarbeitung dieser Menge an Information völlig überfordert. Man geht davon aus, dass nur etwa 1% der Informationen im Gehirn bewusst verarbeitet werden kann. Das hat natürlich auch Konsequenzen für die Organisation vor Lernprozessen, wo viel Information verarbeitet werden muss (siehe auch implizites Lernen). Aber auch Entscheidungsprozesse werden, ohne dass wir es merken, zumeist unbewusst getroffen. Das bewusste Denken ist seriell organisiert, die Informationen müssen also nacheinander verarbeitet werden. Hingegen ist das unbewusste Denken parallel organisiert und kann deshalb extrem viel Information gleichzeitig verarbeiten. Vor einem ähnlichen Ressourcenproblem steht unser Gehirn bei der Planung und Ausführung von Bewegungen. Der gravierende Unterschied zwischen bewusst kontrollierten und unbewussten automatisierten Bewegungen wird im Folgenden beschrieben.
Kontrolle von Willkürbewegungen
Für die Ausführung von Willkürbewegungen stehen dem Menschen zwei prinzipiell verschiedene Mechanismen zur Verfügung. Diese beiden Bewegungsmechanismen unterscheiden sich in vielen Aspekten. Kontrollierte “closed loop” Bewegungen sind durch maximale Kontrolle gekennzeichnet und werden normalerweise bei ungelernten Bewegungen verwendet. Automatisierte “open loop” Bewegungen sind hingegen durch maximale Effizienz gekennzeichnet und werden bei gelernten Bewegungen verwendet.
Kontrollierte Bewegungen
Bei kontrollierten “closed loop” Bewegungen werden während der Ausführung mit Hilfe von sensorischem oder visuellem Feedback erkannte Abweichungen permanent nachgeregelt. Für diese Bewegungen besteht vor Beginn der Ausführung eine genauere Vorstellung von der gewünschten Form, es gibt jedoch keinen Plan für ein ganzheitlich zugrunde liegendes Bewegungsmuster. Dieses wurde eventuell noch gar nicht gelernt – beispielsweise beim Versuch ein neues Instrument zu spielen, oder zu Beginn des Schreiben lernens. Man beginnt die Bewegung langsam auszuführen, um dann je nach Feedback die Bewegung während der Ausführung kontinuierlich anzupassen. Als Ergebnis wird die Muskulatur permanent aktiviert und deaktiviert. Da die Bewegung schon während der Ausführung kontrolliert wurde, erfolgt nach Beendigen der Bewegung auch keine Nachkontrolle mehr, da das Bewegungsergebnis normalerweise so gut wie möglich erreicht wurde.
Die Bewegung wird während der Ausführung kontrolliert und
Abweichungen werden sofort korrigiert
es sind nur sehr langsame Bewegungen möglich
eine bewusste Bewegungskontrolle erfordert viel Aufmerksamkeit.
Closed loop Bewegungen werden normalerweise dann verwendet, wenn die Bewegung noch nicht gelernt wurde und deshalb im Detail kontrolliert werden muss, oder bei außerordentlichen räumlichen Präzisionsanforderungen. Wegen der relativ langsamen Reaktionszeit (ca. 250 ms für eine bewusste motorische Reaktion auf einen Stimulus) und der Trägheit der Augenfolgebewegung muss eine solche Bewegung aber stark verlangsamt ablaufen. Beispiel ist hier das Nachmalen, wo mit langsamen Bewegungen eine vorgegebene Form nachgespurt wird und Abweichungen sofort korrigiert werden können. Für das genaue Malen eines einfachen Buchstaben werden so etwa 1-2 Sekunden benötigt, für einen geschriebenen Buchstaben aber nur 200ms.
Automatisierte Bewegungen
Die Ausführung von automatisierten “open loop” Bewegungen entzieht sich weitgehend der bewussten Bewegungskontrolle. Beispiel ist hier das schnelle Schreiben, wo ein Schreibfehler erst dann entdeckt wird, nachdem der Buchstabe oder gar das Wort geschrieben wurde. Automatisierte Bewegungen sind Grundlage aller unserer gelernten Willkürbewegungen (wie z.B. greifen, fangen). Der Automationsgrad kann sogar als direkter Leistungsmesser im Bereich Hochleistungssport verwendet werden.
Bei automatisierten Bewegungen wird bereits vor Beginn der Ausführung eine kompletter motorischer Plan zur Umsetzung entworfen. Durch die im motorischen Gedächtnis gespeicherten gelernten Bewegungsmuster wird ein ganzheitlicher Bewegungsablauf geplant. Von diesem Bewegungsablauf und dem gewünschten Effekt wird dann eine Kopie angefertigt und im Gehirn gespeichert (Efferenzkopie), die später zu Nachkontrolle des Bewegungsergebnisses verwendet wird. Der entscheidende Punkt dieser Kontrollstrategie ist, dass während der Bewegungsausführung keinerlei durch Feedback gesteuerten Bewegungskorrekturen mehr erfolgen, da diese Bewegungskorrekturen den flüssigen und schnellen Bewegungsablauf behindern würden. Deshalb können diese Bewegungen sehr komplex sein, und gleichzeitig extrem schnell ablaufen. Gleichzeitig sind gelernte automatisierte Bewegungen unglaublich ökonomisch und effizient – alle beteiligten Muskeln arbeiten im Idealfall in perfekter Harmonie.
Eigenschaften von automatisierten Bewegungen:
das Bewegungsergebnis wird vorhergesagt
während der Bewegung wird keine Information verarbeitet
das Bewegungsergebnis wird mit Vorhersage verglichen
Abweichungen werden in der nächsten Bewegung berücksichtigt
feed-forward Bewegungen sind beliebig komplex ausführbar
Automatisierte Bewegungen müssen zunächst gelernt und optimiert werden (siehe Fitts Lernmodell). Das Lernen von automatisierten Bewegungen entspricht im Prinzip der kontinuierlichen und wiederholten Suche nach einer Lösung für eine bestimmte Aufgabe. Bereits während des Lernens wird dabei die Kontrolle der Bewegungsausführung kontinuierlich vermindert. Stattdessen wird ein anderer Lernmechanismus verwendet. Nach Beendigen der Bewegung erfolgt jetzt eine Nachkontrolle, und Abweichungen von dem geplanten Bewegungsergebnis werden für die korrigierte Planung der nächsten Bewegung verwendet. Dieser Mechanismus führt zu einem weiteren Lernen der spezifischen Ausführungsformen dieser Bewegung.
Was bedeutet dies für meine Unterrichtspraxis?
Automatisierte Bewegungen wie die routinierte Handschrift sind selbstorganisierend und werden während der Ausführung nicht mehr kontrolliert. Nur wenn automatisiert geschrieben wird, wird das Arbeitsgedächtnis nicht belastet und steht dann für andere Aufgaben wie Textverständnis oder Grammatik zur Verfügung.
Reflexionsfrage
Wie kann bei automatisierten Bewegungen trotzdem die Kontrolle über den Bewegungsablauf garantiert werden? Beispielsweise bleibt ja auch schnelle Handschrift noch lesbar.
Quiz
1) Kontrollierte closed loop Bewegungen
A) werden komplett vorausgeplant
B) werden schnell ausgeführt
C) unterliegen der sensorischen und visuellen Kontrolle
2) Automatisierte Bewegungen
A) entziehen sich der bewussten Kontrolle
B) können während der Ausführung noch kontrolliert werden