Illusion des Lernens
Die Illusion des Lernens besteht darin, dass sich unter bestimmten, vor allem konstanten, Lernsituationen die Leistung während des zwar Trainings verbessert, aber im Transfer wieder stark zurückfällt. Andererseits konnte durch viele Experimente gezeigt werden, dass bei schwierigeren Lernbedingungen, zum Beispiel mit variablen Aufgabenstellungen, sich die Leistung während des Trainings weniger deutlich verbessert, aber im Transfer zu einer viel besseren Leistung führt.
Inhalt
Shea & Morgan führten 1979 ein berühmtes Bewegungskoordinationsexperiment durch, das die bestehenden Paradigmen zum Lernprozess maßgeblich veränderte: „Kontextuelle Interferenzeffekte auf den Erwerb, die Beibehaltung und die Übertragung einer motorischen Fähigkeit“. Unter kontextueller Interferenz versteht man, dass neben der eigentlichen Übungsaufgabe weitere Dinge zu beachten sind, wie beispielsweise hier die Reaktion auf ein farbiges Lichtsignal. Die gleichzeitige Ausführung einer Bewegung bei Beachtung von weiteren Kriterien ist eine besondere Herausforderung für das Gehirn, weil die Bewegung permanent auf wahrgenommen Reize hin angepasst werden muss.
Das Experiment bestand darin, auf ein farbiges Licht zu reagieren, einen Tennisball zu greifen, sechs Holzbarrieren in verschiedenen Reihenfolgen umzustoßen, und den Tennisball auf einer zweiten Position abzusetzen. Je nach Lichtfarbe gab es drei spezifische Reihenfolgen, mit denen die Barrieren während der Bewegung umgestoßen werden sollten.
Überlagerung verschiedener Übungsbedigungen
Die Studie basiert auf dem Konzept von Battig aus dem Jahr 1966, dass erhöhte kontextuelle Interferenzen (die Überlagerung verschiedener Übungsbedigungen) während des Erwerbs von Fertigkeiten zu einer verbesserten Beibehaltung oder Übertragung führen, insbesondere unter später auch veränderten Kontextbedingungen. Die eine Gruppe lernte drei motorische Aufgaben in einer geblockten Reihenfolge (immer die gleiche Aufgabe), die andere Gruppe lernte die Aufgaben in einer zufälligen Reihenfolge. Interessant ist hier, dass beide Gruppen insgesamt die gleichen Übungen machten, aber in verschiedenen Reihenfolgen. Der Transfereffekt wurde nach 10 Minuten beziehungsweise nach 10 Tagen wieder, in geblockter und in zufälliger Präsentationsreihenfolge, überprüft.
Die Ergebnisse auf der linken Seite der Abbildung zeigen, dass während der Übungsphase die Gruppe mit geblocktem Üben (Quadrate) eine deutlich bessere Leistung zeigten als die Gruppe mit zufälligem Üben (Kreise).
Dies sieht zunächst nach einer Überlegenheit des geblockten Übens aus, wie sie auch in vielen Lernsituationen mit geblocktem Üben vom Lerner selber empfunden werden: Man verbessert sich während des Übens, und ist damit auch vom positiven Lernerfolg überzeugt. Allerdings dreht sich dieser Effekt im Transfer völlig um. Wurde nach 10 Minuten oder nach 10 Tagen die geblockte, also die einfache Reihenfolge getestet, war nun plötzlich die Gruppe mit der zufälligen Übungsreihenfolge besser. Dieser Effekt war allerdings dramatisch, wenn im Transfer die zufällige Übungsreihenfolge getestet wurde. Die Leistung der Gruppe mit geblocktem Üben fiel nun weit zurück, während die Gruppe mit zufälligem Üben das erreichte Lernniveau halten konnte. Dieser Effekt war auch nach 10 Tagen gleich messbar.
Variables Üben im Sport
Dieses Experiment wurde in vielen Varianten oftmals wiederholt und bestätigt. Die Lernvorteile von variablem Training wurden häufig in verschiedenen Umgebungen mit Anfängern demonstriert. Das Ziel einer Studie von Hall und Kollegen („Contextual interference effects with skilled baseball players“, 1997) war es, solche Effekte auch mit erfahrenen Sportlern zu testen. Dabei wurde die Leistung für zweiwöchentliche zusätzliche Schlagübungen eines College-Baseballteams (im Alter von 17–21 Jahren) untersucht. Die eine Gruppe erhielt 45 Wurfübungen in zufälliger Reihenfolge, während die andere Gruppe die Wurfübungen in einer geblockten Weise erhielt: alle 15 eines Typs, dann 15 des nächsten Typs und schließlich 15 des letzten Typs. Die Leistungsentwicklung der beiden Gruppen wurde während des Trainings, und danach in einem Transfertest überprüft.
Die Abbildung zeigt für die Gruppe mit geblocktem Üben (rot) während des Trainings eine leicht bessere Leistung. Beim Transfertest drehten sich die Unterschiede wiederum um. Beim Vergleich des Vortests mit einem Transfertest mit zufälliger Wurfreihenfolge verbesserte sich die Zufallsgruppe um 56,7 %, und die geblockte Gruppe aber nur um 26,3 %. Gegenüber der letzten Trainingsmessung verschlechterte sich die geblockte Gruppe deutlich.
Die Illusion des wiederholenden Lernens
Die Ergebnisse dieser Studien hatten natürlich weitreichende Folgen für das generelle Verständnis von Lernprozessen. Das geblockte Üben hat zwar während der Lernphase einen sofortigen Lernerfolg, dieser Lernerfolg ist aber scheinbar eine Illusion. Dieser Effekt wird deshalb auch als „Illusion des Lernens“ bezeichnet. Der spätere Transfer von geblocktem Üben auf den Alltag ist hingegen gering oder gar nicht vorhanden. Das kann dadurch erklärt werden, dass beim geblockten Üben nicht genügend Information verarbeitet wird, weil der Lerner anfängt, die Bewegungen einfach nur noch zu wiederholen. Wie wir im Abschnitt über die Amygdala und den Hippocampus gelernt haben, wird beim einfachen Wiederholen das Lernsystem nur unzureichend aktiviert.
Im Gegensatz dazu, ist beim zufälligen oder variablen Lernen eine wiederholte Problemlösung gefordert, das System muss sich immer wieder an die neue Aufgabe anpassen. Das ist in der Übungsphase zwar mit mehr Fehlern behaftet, der sofortige Lernerfolg ist also geringer, führt aber im Transfer zu einem signifikant besseren Lernergebnis. Wenn nun beispielsweise Kinder seitenweise den gleichen Buchstaben immer wieder gleich wiederholen, kann man davon ausgehen, dass der Lernerfolg deutlich geringer sein wird als erwartet. Die Idee des Eingravierens einer Bewegung durch oftmaliges Wiederholen ist eines der größten Missverständnisse über die Natur des Lernens. Tatsächlich sollte in der oftmaligen Wiederholung immer wieder eine leicht variierte Aufgabe gestellt werden, oder die Schwierigkeit der Aufgabe muss so gewählt werden, dass das System immer wieder selbst zu Variationen tendiert. Aber die oftmalige perfekte Wiederholung der Form, noch dazu in Zeitlupe, ist nicht der richtige Weg um Bewegungen zu lernen und zu automatisieren.
Was bedeutet dies für meine Unterrichtspraxis?
Natürlich ist jeder Trainer oder Lehrer erfreut, wenn sich nach dem Üben sofort eine verbesserte Leistung einstellt. Dabei sollte aber bedacht werden, dass der tatsächliche Übungserfolg erst zeitversetzt überprüft werden kann. Gerade bei anspruchsvollerem Üben ist es völlig normal, dass der Lernerfolg nicht sofort eintritt.
Reflexionsfrage
Warum verpufft der Effekt von rein wiederholendem Üben nach kurzer Zeit wieder?
Quiz
1) Variables Üben führt zu
A) einfacherem Lernen
B) schnellerem Lernen
C) nachhaltigerem Lernen
2) Die Illusion des Lernens beschreibt
A) einen Leistungsabfall im Transfer
B) zu großes Selbstvertrauen des Lerners
C) das mangelnde Verständnis der Aufgabe